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Patentrecht

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Zum einen steht zunächst die jüngste Vorlagefrage an die Große Beschwerdekammer im Fokus, betreffend das Ob und Wie der Auslegung von Patentansprüchen. Zum anderen nimmt auch die Bedeutung der Auslegung für die Ausführbarkeit von Patenten zu, was am aktuellen Diskussionsstand der Beschwerdekammern zu beobachten ist. Damit stellt sich auch die Frage, welche Anforderungen sich daraus an die Fachperson ergeben, die das Patent auslegt und die Ausführbarkeit bewertet.  

1. Die Auslegung von Patentansprüchen – Eine willkommene Vorlagefrage

Eine Tatsache, mit der Praktiker lange Zeit vor dem EPA konfrontiert wurden, war die divergierende Rechtsprechung der Beschwerdekammern bei der Frage der Auslegung von Patentansprüchen. Während der BGH diesbezüglich eine klare Linie vertritt und eine Auslegung der Ansprüche anhand der Beschreibung immer verlangt (Rotorelemente, Polymerschaum I), haben sich beim EPA verschiedene Denkschulen entwickelt. Einige Experten gehen von fünf verschiedenen Entscheidungslinien ((Daniel X. Thomas, ehemaliger Direktor beim EPA), andere etwas konservativer von drei Gruppen aus (Bengi-Akyürek, vorsitzender technischer Richter der Beschwerdekammer 3.5.05 des EPA, GRUR Patent 2023, 110). Besonders kontrovers diskutiert wurde, ob sich ein allgemeines Gebot der Auslegung der Ansprüche unter Heranziehung der Beschreibung aus Art. 69 EPÜ ableiten lässt. Artikel 69 befasst sich mit dem Schutzbereich des Patents bzw. der Patentanmeldung, der durch die Patentansprüche bestimmt ist. Demgemäß seien die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen. Art. 69 EPÜ und sein Auslegungsprotokoll sind vor allem in den nationalen Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahren von Bedeutung. Der darin genannte Schutzbereich ist daneben noch in Art. 123 (3) EPÜ explizit erwähnt. Eine zweite, mögliche rechtliche Grundlage für die Auslegung von Ansprüchen ist Art. 84 EPÜ. In Artikel 84 EPÜ ist allerdings vom Schutzgegenstand die Rede. Konkret gibt die Norm vor, dass die Patentansprüche den Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird. Sie müssen deutlich, knapp und von der Beschreibung gestützt sein. Problematisch ist jedoch zum einen, dass Art. 84 EPÜ im Unterschied zu Art. 69 EPÜ keine explizite Auslegungsregel enthält und zum anderen auf die Ansprüche eines erteilten Patents nicht anwendbar ist. Die Entscheidung T 1473/19 versucht das Verhältnis zwischen den beiden Normen, unter Berufung auf G2/88, wie folgt zu erklären: Die Ansprüche müssen den Erfordernissen des Art. 84 EPÜ genügen, damit sie überhaupt ihren Zweck, nämlich die Bestimmung des Schutzbereiches nach Art. 69 EPÜ, erfüllen können. Die Diskussionen hinsichtlich des „Obs“ der Auslegung und der entsprechenden rechtlichen Grundlagen führten in der Vergangenheit dazu, dass der Ausgang eines Verfahrens von dem Credo beeinflusst werden konnte, das der jeweilige Spruchkörper vertrat. Dabei lassen sich inhaltlich zumindest die folgenden drei Denkschulen feststellen:
  1. Eine erste Gruppe von Entscheidungen verneint grundsätzlich die Heranziehung der Beschreibung im Prüfungs- und Einspruchsverfahren bei der Auslegung eines Anspruchs. Es wird insbesondere die Auffassung vertreten, dass die Funktion der Ansprüche darin besteht, den Gegenstand zu definieren, für den Schutz begehrt wird. Deshalb muss der Anspruch selbst als strikte Definition gelesen werden (T 1279/04, T 175/98, T 515/19, T 2370/16, T 1778/17, T 1583/17, T 21/16, T 1853/19, T 19/18 oder T 1989/18)
  2. Diametral entgegensetzt vertritt eine zweite Gruppe von Entscheidungen die Auffassung, dass Ansprüche immer unter Rückgriff auf Art. 69 EPÜ ausgelegt werden müssen. Der Gedanke ist hier, dass der Rechtsgrundsatz, wonach ein Dokument als Ganzes auszulegen ist, im EPÜ allgemein gültig ist. Artikel 69 ist nur ein Sonderfall der Anwendung dieses Grundsatzes (T 23/86, T 860/93, T 1871/09, T 1817/14, T 1473/19).
  3. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine Reihe von Kompromisslösungen, die beispielsweise den Rückgriff auf die Beschreibung nur im Falle von Unklarheiten (T 481/95, T 169/20, T 1646/12, T 42/22) zulassen.
Die Nachricht über eine neue Vorlagefrage an die Große Beschwerdekammer (in der Beschwerdesache T 439/22) kam somit nicht überraschend. Aus dem Protokoll der Verhandlung geht hervor, dass die Frage insbesondere die Anwendbarkeit von Art. 69 in der Anspruchsauslegung betrifft. Fraglich ist, ob auch ein weiteres, damit verbundenes und kontrovers diskutiertes Thema, nämlich die Anpassung der Beschreibung an die Ansprüche, vorgelegt wird. Klarheit darüber wird die Patentwelt spätestens am 10. Juni 2024 haben, wenn die Zwischenentscheidung veröffentlicht wird.  

2. Auswirkungen auf die Praxis

Eine Vorlagefrage hat zur Folge, dass das Verfahren der vorlegenden Kammer ausgesetzt wird. Allerdings können Verfahren vor anderen Beschwerdekammern ebenfalls ausgesetzt werden. Entscheidend hierfür ist, ob die Entscheidung des Beschwerdeverfahrens „völlig“ vom Ausgang des Vorlageverfahrens abhängt (T 1875/07, T 787/06, T 1044/07 und T 1961/09). Ist die Rechtsgrundlage für die Zurückweisung einer Anmeldung nur für die Begründung, nicht aber für die Entscheidung selbst maßgeblich, wird das Verfahren in der Regel nicht ausgesetzt. Auch Prüfungs- und Einspruchsabteilungen können solche Verfahren von sich aus oder auf Antrag aussetzen, die völlig von der Antwort der Großen Beschwerdekammer auf die anhängige Vorlagefrage abhängen. Die Auslegung von Patentansprüchen ist, vor allem in Einspruchsverfahren, häufig von zentraler Bedeutung. Beobachter rechnen mit einer Entscheidung der GBK frühestens zwischen Ende 2024 und Anfang 2025, sodass bis dahin mit einer großen Anzahl von ausgesetzten Einspruchsverfahren zu rechnen ist.  

3. Auswirkungen auf benachbarte Rechtsnormen – Ausführbarkeit nach Art. 83 EPÜ

Ein weiteres, beim EPA kontrovers diskutiertes Thema betrifft die Ausführbarkeit von Erfindungen. Das Wie und Ob einer Auslegung der Ansprüche spielt in diesem Kontext ebenfalls eine große Rolle.  

3.1. 83 – ständige Rechtsprechung

Die Ausführbarkeitsnorm des EPA ist Art. 83 EPÜ: Die Erfindung ist in der Anmeldung (bzw. europäischen Patentanmeldung) so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Nach ständiger Rechtsprechung des EPA (Case Law of the BoA, 2022, II, C.1 Einleitung) bedeutet dies, dass für die Ausführbarkeit drei Bedingungen erfüllt sein müssen:
  1. Die Erfindung muss am Anmeldetag anhand der Anmeldung als Ganzes einschließlich der Beispiele und unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens ausreichend offenbart sein.
  2. Es muss mindestens ein Weg offenbart werden, auf dem der Fachmann die Erfindung ausführen kann,
  3. der jedoch nur dann ausreichend ist, wenn sich die Erfindung damit im gesamten beanspruchten Bereich ausführen lässt.
Diese bisherige und über die Jahre verfestigte Interpretation der Ausführbarkeitsnorm ist durchaus nachvollziehbar. Bestehen Zweifel an der Ausführbarkeit, können diese in der Regel durch Versuche ausgeräumt bzw. bekräftigt werden, wobei die Beweislast im Einspruchsverfahren bei den Einsprechenden liegt (EPA: T 182/89, ABl. 1991, 391). Im Kontext der Ausführbarkeit ist nach der Rechtsprechung des EPA (G1/03, T 2015/20) besondere Aufmerksamkeit bei funktionellen Anspruchsmerkmalen geboten, das heißt solchen Merkmalen, die über ihre Wirkung definiert sind. Die Entscheidung G1/03 legt in Rn 2.5.2 der Begründung fest, dass ein Anspruch, der eine Wirkung beschreibt und Ausführungsformen abdeckt, die nicht funktionsfähig sind, nicht ausführbar ist.  

3.2. 83 – aktuelle Entwicklungen

Ausgehend von T 2773/18 aus dem Jahr 2021 treffen einige Beschwerdekammern vermehrt Entscheidungen, die eine Auflockerung des Kriteriums der „Ausführbarkeit über den gesamten Bereich“ (siehe oben, Punkt (iii)) zu bezwecken scheinen. Eine erste Gruppe von Entscheidungen (T 2773/18, T 500/20, T 1983/19) vertritt insbesondere die Auffassung, dass die im Kontext der Chemie entwickelte Rechtsprechung, der zufolge die Erfindung über den gesamten beanspruchten Bereich ausführbar sein muss, nicht ohne Abstriche auf die Mechanik übertragbar ist (T 1983/19, Rn 2.1.3). Eine zweite Gruppe von Entscheidungen scheint dieser Entwicklung, in unterschiedlicher Ausprägung, entgegenzusteuern (T 149/21, T 0867/21).  
Die erste Gruppe – Auflockerung des Prüfungsmaßstabes?
Im Kontext der oben diskutierten Auslegungsfragen ist insbesondere die oben erstgenannte Entscheidung T 2773/18 aus dem Jahr 2021 (inter partes Verfahren) interessant. Zum besseren Verständnis wird das betreffende technische Problem der Anmeldung kurz umrissen:  Beansprucht ist eine Windturbine mit einem Turm, der einen oberen, einen mittleren und einen unteren Teil aufweist. Der untere und mittlere Teil bilden die Basis des Turms, ein Kühlvorrichtungseinlass ist im oberen Teil des Turms angeordnet. Der Einsprechende argumentierte, dass die Abmessungen des unteren und des oberen Teils nicht auf eine Mindestgröße oder -höhe begrenzt seien. Somit decke der Anspruch auch Ausführungsformen ab, bei denen der Einlass recht niedrig über dem Meeresspiegel liegt und nicht den technischen Effekt des Ansaugens von Luft mit geringem Wasser- und Salzgehalt erzielen kann. Die Beschwerdekammer stellte fest, dass diese Argumentation die im Bereich der Chemie entwickelte Rechtsprechung fälschlicherweise auf eine Erfindung in dem Gebiet der Mechanik übertragen würde. Ansprüche im Bereich der Mechanik würden oftmals in funktionaler Weise oder in allgemeiner Form versuchen, das Wesen einer konkreten Maschine, einer mechanischen Struktur oder einer Funktionsweise zu erfassen. Diese Ansprüche seien naturgemäß schematisch und würden einen gewissen Interpretationsspielraum zulassen. Bei einer geschickten Auslegung ließen sich immer Ausführungsformen finden, die von der Breite des Anspruchs erfasst sind, aber nicht die erwünschte Wirkung erzielen. Dies ist, nach Auffassung der Kammer, jedoch nicht ein Problem der Ausführbarkeit, sondern vielmehr der Anspruchsauslegung. Wenn der Fachmann, so die Kammer weiter, unter Berücksichtigung der gesamten Offenbarung und unter Anwendung seines Fachwissens, ableiten kann, was funktionieren wird und was nicht, dann ist die Erfindung ausführbar offenbart, auch wenn eine breite Auslegung nicht ausführbare Ausführungsformen umfasst. Dieser Gedanke wird unter anderem in der Entscheidung T 500/20 aufgegriffen. Hier kommt die Kammer zu dem Schluss, dass Ein Beispiel, das unter den Anspruch fällt und die beanspruchte Wirkung nicht erzielt, beweist nicht, dass das beanspruchte Konzept nicht funktioniert; es spiegelt vielmehr die Grenzen wider, die jeder technischen Entwicklung inhärent sind und die Spielraum für künftige (erfinderische) Entwicklungen bieten können.  
Bedeutung für die Praxis
Die Kammern verschieben hiermit faktisch das Problem der Ausführbarkeit in die Auslegung des Patentanspruchs. Dies kann beispielsweise dazu führen, dass Anspruchsmerkmale als implizite Merkmale ausgelegt werden, also z.B. als Merkmale, die funktionell so definiert sind, dass sie sich innerhalb der Grenzen des technisch Möglichen bewegen. Dieser Ansatz kann einem ersten Anschein nach durchaus sinnvoll erscheinen. Die Entscheidung T 1983/19 bringt es wie folgt auf den Punkt: Zu fast jedem Anspruch der Mechanik lassen sich beliebig viele Ausführungsbeispiele erdenken, die nicht ausführbar sind. Dies führt aber nicht dazu, dass die Erfindung als solche nicht ausgeführt werden kann. Dies bedeutet, dass ein breit formulierter Anspruch gewährbar sein soll, obwohl er außerhalb eines für den Fachmann technisch möglichen und sinnvollen Bereichs nicht ausführbar ist. Kritisch an diesem Ansatz sind die folgenden zwei Punkte:
  1. Durch die Auslegung der Merkmale als solche, die sich innerhalb eines „funktionierenden“ Bereichs bewegen, kann ein mit der Zeit variabler Schutzbereich des Patents entstehen. Wird zu einem späteren Zeitpunkt ein Wert oder Wertebereich außerhalb des am Anmeldetag funktionierenden Bereichs erschlossen, ist dieser von dem breiten Anspruch gedeckt und somit nicht (mehr) patentierbar.
  2. Die oben zitierten Entscheidungen lassen auch offen, wie die Grenzen der Ansprüche bestimmt werden. In der Praxis kommt hier häufig der Fachmann ins Spiel. Die bereits zitierte Entscheidung T 500/20 formuliert wie folgt:
[…] Hier genügt in der Regel ein einziges detailliertes Beispiel oder eine Ausführungsform, um zu veranschaulichen, wie dieses Konzept in die Praxis umgesetzt werden kann und zwar in einer Weise, dass die zugrunde liegenden Prinzipien vom relevanten Fachmann verstanden werden können und er die beanspruchte Erfindung mit seinem allgemeinen Wissen ohne unangemessene Belastung nachvollziehen kann. Allerdings ist auch die Anwendung des Fachwissens durch den Fachmann nicht unumstritten, wie nachfolgend gezeigt.  

4. Die Bedeutung des Fachmanns und des Fachwissens

Zunächst wird auf die Unterscheidung eingegangen, die einige Entscheidungen hinsichtlich des fachkundigen Lesers und des Fachmanns treffen. Im zweiten Schritt wird gezeigt, dass auch beim Nachweis des Fachwissens unterschiedliche Maßstäbe gesetzt werden.  

4.1. Fachkundiger Leser vs. Fachmann

Einige Entscheidungen des EPA unterscheiden zwischen dem „fachkundigen Leser“, wenn es um die Bewertung der Auslegung und dem „Fachmann“, wenn es um die Bewertung der Ausführbarkeit und der erfinderischen Tätigkeit geht. Der fachkundige Leser, an den sich die Ansprüche richten, hat Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Anmeldung (sowie der einschlägigen Terminologie). Er benötigt keine Hinweise aus der Beschreibung, sodass die Ansprüche nicht unter Zuhilfenahme der Beschreibung und der Zeichnungen, sondern für sich genommen zu lesen und auszulegen sind (T 2764/19, T 223/05, T 1404/05, T 1127/16). Der fachkundige Leser sollte den Ansprüchen normalerweise die breiteste technisch sinnvolle Bedeutung beimessen. Dies bedeutet, dass der „fachkundige Leser“, nur bei den Entscheidungen bzw. Kammern eine Rolle spielen kann, die eine Auslegung anhand der Beschreibung ausschließen. Bewegen wir uns nun vom fachkundigen Leser hin zum Fachmann, eröffnen sich weitere Unstimmigkeiten. Divergierende Meinungen beim EPA ergeben sich hinsichtlich des „Zeitpunktes“, bei dem der Fachmann relevant wird. So heißt es in der Entscheidung T 1450/16:
"[…] der Fachmann i.S.v. Art. 56 EPÜ betritt die Bühne der erfinderischen Tätigkeit erst dann, wenn die objektive technische Aufgabe bereits formuliert wurde. Daher ist der Fachmann gemäß Art. 56 EPÜ die Person, die auch qualifiziert ist, die formulierte objektive Aufgabe zu lösen […] und nicht notwendigerweise die auf dem Gebiet der Anmeldung oder dem ausgewählten nächstliegenden Stand der Technik versierte Person, wie scheinbar in T 25/13 suggeriert wird …"
Folgt man dieser Auffassung, ergibt sich bei der Bewertung der Ausführbarkeit einer Erfindung zwangsläufig ein anderer Fachmann als bei der Bewertung der erfinderischen Tätigkeit. Dieses Problem wurde bereits in der Entscheidung T 694/92 (ABl. 1997, 408) adressiert. Diese legt fest, dass für die Zwecke der Art. 56 und Art. 83 EPÜ 1973 derselbe Wissensstand maßgeblich ist, die jeweilige Ausgangssituation aber eine andere ist: Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist entscheidend, dass der Fachmann nur den Stand der Technik kennt, für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung dagegen, dass er den Stand der Technik und die offenbarte Erfindung kennt. Die beschriebene Differenzierung nach fachkundigem Leser und Fachperson scheint allerdings eine rechtsphilosophische Feinheit, die für die Praxis keine größere Rolle spielt.  

4.2. Nachweis von Fachwissen

Von weit größerer praktischer Bedeutung ist jedoch die Frage nach dem Nachweis des Fachwissens. Auch hier gibt es, wieder, divergierende Rechtsprechung. So gibt es beispielsweise die durchaus „liberale“ Entscheidung T 1090/12. Hier sah die Kammer keine Verpflichtung, schriftliche Nachweise zum allgemeinen Fachwissen vorzulegen, da ihre Mitglieder aufgrund ihrer Tätigkeit wüssten, dass die strittigen Merkmale dem Fachmann bekannt seien. Diese Entscheidung ist (noch) Ausdruck einer Mindermeinung. Nach gängiger Praxis ist ein Nachweis für die Behauptung, dass etwas zum allgemeinen Fachwissen gehört, dann erforderlich, wenn dies von einem anderen Beteiligten oder vom EPA infrage gestellt wird (s. z. B. T 766/91, T 234/93). Wird die Behauptung, etwas gehöre zum allgemeinen Fachwissen, bestritten, so ist es an demjenigen, der dies behauptet, zu beweisen, dass der betreffende Gegenstand tatsächlich zum allgemeinen Fachwissen gehört (T 766/91; T 939/92, ABl. 1996, 309; T 329/04; T 941/04; T 690/06). Auch hinsichtlich des Anlasses, Fachwissen anzuwenden, gibt es divergierende Entscheidungen. Gemäß der Entscheidung T 1601/15 bedarf der Fachmann keines Anlasses, um sein Fachwissen zur Anwendung zu bringen. Sein Fachwissen, so die Kammer, bildet gewissermaßen den technischen Hintergrund für jede seiner Tätigkeiten und fließt in alle seine Entscheidungen ein. Anders sieht es die Entscheidung T 1471/11. Demnach ist es zwar richtig, dass das Fachwissen (hier in der Diskussion der erfinderischen Tätigkeit) berücksichtigt werden muss, jedoch muss auch die Richtung, in welche das Fachwissen anzuwenden ist, von einer Lehre oder dem Fachwissen selbst ableitbar sein. Interessant in diesem Kontext ist auch ein Blick auf die Entscheidungspraxis des BGH. Dieser vertritt letzteren Ansatz, wie aus dem zweiten Leitsatz der Entscheidung „Leuchtdiode“ aus dem Jahr 2022 (X ZR 82/20) hervorgeht:
"… Der Umstand, dass die Kenntnis eines technischen Sachverhalts zum allgemeinen Fachwissen gehört, belegt noch nicht, dass es für den Fachmann nahelag, sich bei der Lösung eines bestimmten Problems dieser Kenntnis zu bedienen …"
 
Bedeutung für die Praxis
Aktuell ist es (noch) gängige Praxis, dass Fachwissen dann nachgewiesen werden muss, wenn es streitig ist. Sollte sich eine Abweichung davon, im Sinne der oben zitierten T 1090/12, breit machen, kann dies zu erheblichen Unsicherheiten führen. Eine zulässige ungeprüfte Berufung auf Fachwissen kann insbesondere im Beschwerdeverfahren zu unvorhersehbaren Wendungen führen, für die dann kein Rechtsmittel mehr zur Verfügung steht. Auch hier ist das deutsche Verfahren klarer und schafft Rechtssicherheit: Eine Kenntnis, die zum allgemeinen Fachwissen gehören soll, kann nur berücksichtigt werden, wenn es unbestritten und belegbar ist (Schulte, 11. Auflage, §34 Rn 342, unter Berufung auf BPatGE 30, 250).  

Fazit

Die Vorlagefrage zur Auslegung von Patentansprüchen könnte ein willkommener Startpunkt sein, für die Schaffung von Klarheit auch in benachbarten Gebieten, wie die Ausführbarkeiten und die Zuhilfenahme von Fachwissen durch den Fachmann. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die divergierende Rechtsprechung, vor allem hinsichtlich der Ausführbarkeit über den gesamten beanspruchten Bereich, weiterentwickelt. Sollte sich die Schere zwischen „Chemie“ und „nicht Chemie“ weiter öffnen, ist hier eine weitere Vorlagefrage zu erwarten.